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9.5.2001 RoL

Pink-Apple-News:

Tachles, 4.5.01

Homosexualität

Schweigen ist zu still

Morgen werden in der Synagoge die Torastellen gelesen, in denen deutlich Homosexualität unter Männern verurteilt wird. Noch ist es nicht lange her, seit die Wissenschaft erkannte, dass die gleichgeschlechtliche Liebe keine Krankheit ist. Zu den Wegbereitern einer offeneren Zeit gehörten oft jüdische Aktivisten. In Amerika und Israel haben sich in orthodoxen Gesellschaften neue Lebensweisen entwickelt, die im Dokumentarfilm «Trembling before G-d» am Sonntag thematisiert werden. Die Schweiz kommt darin nicht vor. Am «Weltkongress der homosexuellen, lesbischen, bisexuellen und transsexuellen Juden» wird die Schweiz aber vertreten sein, obwohl über das Thema hier zu Lande lieber geschwiegen wird.

Von Vivianne Berg

«Zwei Männer zusammen, das ist doch grauslig. Zwei Frauen, das ist viel ästhetischer», meint ein Familienvater, dessen Alltag durch die Gesetze der Tora bestimmt wird. Er, streng orthodox und doch gesprächsbereit, kennt selber keine Männer und keine Frauen, die wie er nach der Tora leben, aber die Nächstenliebe zudem körperlich gleichgeschlechtlich praktizieren. Der Tora entsprechend war bereits seine Reaktion auf die Frage. Wird an mehreren Stellen der Tora männliche Homosexualität aufs Heftigste verurteilt, ist jene von Frauen gar nicht erwähnt und scheinbar inexistent. Der Weg zur Empanzipation von überlieferten Lebensmustern führte bei Frauen in den letzten Jahrzehnten meist erst zum feministischen Engagement.

Forderung nach Dialog
In Zürich ist bei Alize, dem ersten jüdischen Schwulen- und Lesbenverein Thema, worüber ansonsten eher geschwiegen wird. Stilles Schweigen ist die häufigste Verhaltensweise gegenüber nicht-Heteros. Nichts anderes als Anerkennung und das Gespräch wünschen sich die Initianten von Alize, die vor allem mit ihrer Zurückhaltung auffallen, doch einen Mann und eine Frau an den Münchener Weltkongress schicken. Gegründet wurde Alize vor zehn Monaten, ein grosser Zulauf blieb aus, rund zehn Interessierte der zwanzig Mitglieder treffen sich alle acht Wochen zum gemeinsamen Abendessen. Ein Sederabend fiel aus, weil alle bei Verwandten eingeladen waren. Also alles kein Problem?
Nein. Die Formen der Ausgrenzung sind subtil. Meist ist Schweigen die Losung und damit lässt sich immerhin leben. Nicht diskriminiert zu werden bedeutet aber keineswegs willkommen, aufgenommen zu sein. Manche ziehen darum vor, in einer anderen Gemeinde als der ihres Wohnortes Mitglied zu sein. So gibt es keine Spannungen.
«Ich kann dazu gar nichts sagen», winkt ein Herr älteren Jahrgangs ab, der bei Veranstaltungen und in der Synagoge stets seinen Freund zur Seite hatte. Ein anderer weist auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte generell in der Gesellschaft hin und ist froh darüber, dass die Tabus weniger werden. Das zeigt sich auch bei Alize, wenn an einem Treffen einmal gar ein Elternpaar teilnahm, weil es mehr über die Lebensart des Sohnes erfahren wollte.

Gesellschaftsdruck
Wer einen gleichgeschlechtlichen Partner wählt, verlangt die Diskretion im Gespräch weniger seinetwillen, sondern um Angehörige nicht zu brüskieren. Das überaus familienorientierte Leben beschreibt ein heute Siebzigjähriger so: «Meinen Geschwistern fiel nie ein, mich mit meinem Partner einzuladen».
Ein anderer ähnlichen Alters erzählt, dass er gegenüber seiner Mutter, obwohl er sich mit ihr gut verstanden hatte, zeitlebens nie das Tabu brach. Ob das richtig war, ist er sich nicht mehr ganz sicher.
Wiederum ein anderer, in den dreissiger Jahren, ist mittlerweile mit seinem Freund bei den Eltern willkommen. Zu zweit ist das Paar stets in der Synagoge anzutreffen. Es gibt jene Gemeinden, in denen sich das Verhalten gegenüber Homosexuellen mit ihrem Lebenspartner oder der Lebenspartnerin in nichts unterscheidet vom Verhalten gegenüber andern Paaren. Gemeinden, in denen zwei Glückliche jeglicher Orientierung ebenso zu privaten und gemeindeeinternen Anlässen eingeladen und in Funktionen vertreten sind.
Dazu hat es Jahre gebraucht und der junge Mann äussert sich nur aus Rücksicht auf die Eltern nur anonym. Rückblickend stellt er fest: «Eltern, die erfahren, dass ihr Sohn homosexuell ist, schicken ihn zum Psychiater. Dabei brauchen sie selber Unterstützung. Wer geschafft hat, den Eltern die Wahrheit zu sagen, hat den eigenen Weg bereits gefunden. Die Eltern müssen sich erst damit zurechtfinden». Wenn darüber hinaus ein nicht jüdischer Partner zur Debatte steht, ist das Drama perfekt.
Was verschwiegen wird, gibts trotzdem. Wird in der Bevölkerung mit einem Durchschnitt von bis zehn Prozent nicht-Heteros gerechnet, so gibt es keinen Grund, dass die Zahlen für irgendeine jüdische Gesellschaft anders ausfallen sollten.

Religion und Homosexualität
Der Basler Rabbiner Israel Meir Levinger zitiert, auf Homosexualität angesprochen, die entsprechenden Torastellen. Ob Homosexualität in seiner Gemeinde vorkommt, darüber schweigt er sich aus. Eine anderen Gemeinde konsultierte ihn mit der Frage, ob sie einen Mann, den das Homosexuellenverbot betreffen würde, heute als Vorbeter angestellt werden kann. Er antwortete: «Es ist gleich bedeutend mit essen am Jom Kipur. Wenn es für die Gemeinde keine Rolle spielt, wenn ihr Vorbeter am Jom Kipur isst, kann sie ihn anstellen.»
Einer, der so deutlich wie die Tora Position bezieht, ist Rolf Stürm in Basel. Er ist Mitglied von der jüdischen Gemeinden JLG-Or Chadasch und Israelitische Gemeinde Basel (IGB) und engagiert sich bei der Organisation PinkCross, zu der das Schwulenbüro Schweiz und die LOS (Lesbenorganisation Schweiz) gehören. Für den Mediziner und Naturwissenschaftler ist klar: «Ich kann weder meine sexuelle Orientierung noch Bibelverse (3. Mo. 18:22 und 20:13) wegbeten. Die erste ist von G!tt gegeben, die zweiten von der Tradition. Als Liberal-Religiöser hinterfrage ich primär die Tradition und nicht G'tt.»
Wie die moderne Orthodoxie sich gegenüber der Technik und der Wissenschaft öffne, so müsse sie sich auch für soziale Erkenntnisse öffnen können. «Ziemlich genau zwischen beiden Schwulenverboten (3.Mo 18:22 und 3.Mo 20:13) stehen das Nächstenliebegebot (3.Mo 19:18) und viele andere soziale Vorschriften. Ich weiss nicht, wie und warum die Schwulenverbote in die Tora gekommen sind. Ich weiss aber, dass ich deswegen nicht die ganze Tora samt dem Nächstenliebegebot wegwerfen will.» Dann zitiert Stürm die Textpassagen über das innige Verhältnis, das David und Jonathan zueinander hatten.

KINO

Trembling before G-d
Mit zwei Preisen wurde der Film von Sandi Simcha DuBowski am Berliner Filmfestival ausgezeichnet. In diesem Dokumentarfilm begleitet er Orthodoxe Frauen und Männer in Jerusalem, Brooklyn oder Los Angeles. Sie leben mit oder ohne Partner, fühlen sich so oder so zu einem gleichgeschlechtlichen hingezogen, obwohl sie doch von der Tora glauben, in der dies klar verurteilt wird. «Trembling before G-d». Vier Tage vor der Premiere in New York ist der Film im Kino Movie, Nägelihof 4, 8001 Zürich, am Sonntag, dem 6. Mai 2001 um 12 Uhr zu sehen. Anschliessend Diskussion im Café Paparazzi mit Rolf Stürm, Mitglied JLG, IGB, Pink Cross Fachgruppe 'Arbeitswelt', mit Moël Volken, Geschäftsstellenleiter von Pink Cross und Leiter der Fachgruppe 'Religion. Leitung: Thomas Münzel, Redaktor. Zweitvorstellung am Sonntag, 13. Mai 2001, 12 Uhr im Kino Movie.

Beides sind Veranstaltungen im Rahmen des Schwullesbischen Filmfestivals Pinkapple (www.pinkapple.ch).Thomas Müller und Mitbegründer des Festivals: «Der Film begleitet Menschen, die das scheinbar Unmögliche versuchen: Als Schwule und Lesben aufrechte Mitglieder ihrer orthodoxen Gemeinde zu bleiben. Der Dokumentarfilm tut dies engagiert, doch ohne einseitige Parteinahme, weder für die rein schwullesbische, noch für die rein religiöse Optik.» «Trembling before G-d» wird voraussichtlich im Frühherbst im Zürcher Kino Xenix gezeigt.

INFORMATIONEN

Konferenz in München
Vom 14. bis 17. Juni 2001 wird in München die 6. Europäisch-israelische Regional Conference und der Weltkongress der homosexuellen, lesbischen, bisexuellen und transsexuellen Juden» durchgeführt. Im Internet unter http://www.wcgljo.org. Anschliessend an den Kongress kann eine einwöchige Israelreise vom 18. Juni bis 26. Juni 2001 Israelreise zur Gaypride-Woche gebucht werden (http://stadt.gay-web.de/yachad/Inhalt.html).

VB

Aus der Tora
3. Buch Moses 18:22 Und einem Mann sollst du nicht beiliegen wie man einem Weib beliegt; Greuel ist dies.

3. Buch Moses 18:29 Denn jeder, der einen von allen diesen Greueln tut - die Personen, die sie tun, sollen ausgetilgt werden aus der Mitte ihres Volkes

3. Buch Moses 20:13 Und jemand, der einem Mann beiliegt, wie man einem Weib beiliegt - Greuel haben sie beide begangen; getötet sollen sie werden; ihr Blut über sie!

(Übersetzung H. Torczyner)

© Vivianne Berg
Verwendung auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung der Autorin.